Hegelsche Philosophie der Realität?
Sofern Philosophie keine selbstgenügsame Beschäftigung mit bloßen Gedanken sein soll, hat sie sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Realität in ihrer Vielfalt, so die weit über das philosophische Fachgebiet hinaus etablierte Meinung, bildet den Gegenstand katexochen, den Geltungsbereich und den Prüfstein der Philosophie. Insofern dürfte es nicht als merkwürdig erscheinen, eine ‚Philosophie der Realität‘ zu artikulieren – im Gegenteil: Eine Philosophie der Realität trifft immer den Nerv der Philosophie überhaupt und von ihrem Gelingen hängt sogar Sinn und Glaubwürdigkeit allen Philosophierens grundsätzlich ab.
Dies hätte nicht anders sein können beim vielleicht ausführlichsten Systemphilosophen der Neuzeit, G. W. F. Hegel. Bereits in der Einleitung der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften spricht Hegel von der Notwendigkeit der „Übereinstimmung (der Philosophie) mit der Wirklichkeit und Erfahrung“. Sodann legt er minutiös zahlreiche Begriffe dar, die engstens mit Realität zusammenhängen: Sein, Dasein, Welt, Wirklichkeit, Objektivität, Natur, Geist – um nur einige zu nennen. Doch anders als bei den besagten Begriffen, widmet Hegel der Realität kein eigenes Kapitel und, zwar ist in der Forschung viel die Rede von Hegels vermeintlicher Realphilosophie, aber der reife Hegel selbst hat diese Bezeichnung nicht verwendet. Allem Anschein nach kommt eine eigens ausformulierte Philosophie der Realität bei Hegel nicht vor. Zugleich häufen sich in der spekulativen Systemphilosophie die Schlüsselstellen, die Idee, Idealität und Idealismus philosophisch preisen. Bekanntlich habe ja Hegel zufolge nicht nur seine, sondern „jede Philosophie“ überhaupt den Idealismus „zu ihrem Prinzip“. Geht also die Philosophie Hegels trotz ihrer Ausführlichkeit systematisch letzten Endes doch an der Realität vorbei?
Mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte der Hegelschen Philosophie scheint sich die Kennzeichnung ‚absoluter Idealismus‘ seit jeher als unanfechtbar durchgesetzt zu haben, ganz unabhängig davon, was man von ihm in inhaltlich-systematischer Hinsicht hält. Seit den 80erJahren des vergangenen Jahrhunderts setzt man sogar dezidiert auf ‚Idealismus‘ als Korrelationsbegriff zu Realität, und die Hegelsche Philosophie erfährt erneut in weiten Teilender Welt eine Renaissance, diesmal gerade weil sie ein Idealismus sei. Von Realismus hingegen ist in diesem Zusammenhang erst seit wenigen Jahren zunehmend die Rede. Aber auch dann scheint man eher von anderen philosophischen Diskursen dazu veranlasst zu sein, sodass die genuin Hegelsche Begriffsentwicklung nur eingeschränkt zum Tragen kommt, und schließlich uneindeutig bleibt, ob es sich bei der Einführung von ‚Realismus‘ in die Hegel-Forschung um einen Paradigmenwechsel oder lediglich um eine Frage der Nomenklatur handelt. Die vorsichtige Rekonstruktion von Hegels Philosophie der Realität, und somit auch deren eingehende Auswertung im Kontext anderer Philosophien und Wissenschaften, stehen nach wie vor aus. Eine solche Rekonstruktion stünde vor der doppelten Aufgabe, einzelne Realitäten, etwa die Realität des Seins, der Wirklichkeit, der Objektivität, der Natur und des Geistes, je ihrer Realität nach (im auszuarbeitenden Hegelschen Sinne des Wortes) zu problematisieren und anschließend in eine systematische Einheit zusammenzubringen.
Die Tagung stellt die Realitätsfrage in Bezug auf die gesamte Breite der reifen Systemphilosophie Hegels und versucht Eigenart und systematischen Zusammenhang der zentralen Realitätsbestimmungen zutage treten zu lassen. Dabei ist die Hoffnung leitend, durch sorgfältige Aufarbeitung eines vernachlässigten Aspekts der spekulativen Systemphilosophie Hegels einen wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen, nicht nur Hegel-spezifischen philosophischen Realitätsforschung zu leisten.
Organisation: Dr. Ermylos Plevrakis (Universität Heidelberg), für das Internationale Netzwerk Hegels Relevanz